„Ich habe Diabetes – na und?“

19. November 2021
„Ich habe Diabetes – na und?“

In ihrem Job bringt Martina Seidl täglich volle Leistung. Wie sich das mit ihrem Diabetes verträgt? Gut, sagt die 33-Jährige – solange man richtig plant und den Humor nicht verliert.

Pflegefachperson auf einer Intensivstation zu sein, ist von Anfang an mein Traumberuf gewesen. Für Menschen in einer solchen Extremsituation zu sorgen, ist etwas sehr Sinnvolles, finde ich. Klar, das vergangene Jahr war härter als sonst. Denn ich arbeite zwar auf einer kardiologischen Station, betreue üblicherweise also Herzpatienten in den Tagen nach ihrer Operation. Doch es gab Wochen, da waren alle Betten mit Covid-Patienten belegt, und das ist für uns Pflegende sehr belastend – seelisch und körperlich. Die beatmeten Patienten mehrmals täglich umzulagern, kostet viel Kraft. Und in den Isolierboxen arbeitet man im kompletten Schutzanzug, oft mit mehreren Kollegen gleichzeitig, manchmal vier Stunden am Stück. Danach ist man meistens total durchgeschwitzt und erschöpft.

Wenn ich davon erzähle, fragen mich Freunde gelegentlich: Du hast doch Diabetes, wie schaffst du das alles? Ich sage dann immer: Ich habe der Krankheit bisher nicht erlaubt, über mein Leben zu bestimmen, und dabei wird es auch bleiben. Natürlich bin ich nicht immer so gelassen gewesen. Als das Thema vor sechs Jahren erstmals aufgetaucht ist, habe ich mich ganz schön erschreckt. Ich war damals mit meinem ersten Kind schwanger und hatte einen stark erhöhten Blutzucker. Der Arzt vermutete einen Schwangerschaftsdiabetes, also eine vorübergehende Stoffwechselstörung, die sich durch Diät gut regulieren lässt und nach der Geburt wieder verschwindet. Bei mir war das aber anders, und erst in der zweiten Schwangerschaft zwei Jahre später hat dann ein anderer Arzt endlich die richtige Diagnose gestellt: Diabetes Typ 1.

Ich hatte ja nicht nur einen Job, sondern auch zwei kleine Kinder

Das war erst mal ein Schock, weil ich überlegt habe, ob ich jetzt mein ganzes Leben umstellen muss. Häufig Blutzucker messen, Insulin spritzen, vielleicht eine geringere Belastbarkeit – wenn man bis dahin immer gesund war, muss man sich an den Gedanken erst mal gewöhnen. Und dann hatte ich ja schließlich nicht nur einen Vollzeitjob, sondern gemeinsam mit meinem Mann auch ein Kleinkind und ein Baby zu versorgen. Aber diese Zeit der Unsicherheit ging schnell vorbei, und ich habe mich dann recht schnell mit der Krankheit angefreundet. Bei der Arbeit sehe ich ja jeden Tag, welche schlimmen Krankheiten es gibt. Wenn schon eine chronische Erkrankung, dachte ich, dann besser Diabetes als eine andere.

Den Unterzucker bemerke ich meist, bevor mich das Handy warnt

Im Alltag habe ich heute alles ganz gut im Griff. Natürlich ist es trotzdem manchmal stressig. Ich muss ja viel mehr vorausplanen als andere Menschen, damit mein Blutzuckerspiegel nicht zu sehr schwankt. Wann und was ich esse, wann ich Sport mache – davon hängt ab, wie viel Insulin ich spritzen muss. Zum Glück habe ich aber mittlerweile Hilfsmittel, die mir die Kontrolle erleichtern: Ein Sensor an meinem Oberarm misst meinen Blutzucker und sendet die Daten an mein Handy, mit dem ich sie dann checken kann. Zusätzlich habe ich eine Insulinpumpe, die mich laufend mit kleinen Mengen Insulin versorgt, und die ich per Fernbedienung zusätzlich aktiviere, wenn ich bei Mahlzeiten eine Extra-Gabe benötige.

Der regelmäßige Blick aufs Handy gehört also dazu, auch mal nachts und natürlich während der Arbeit. Meistens merke ich aber schon, bevor das Handy mich warnt, dass ich in den Unterzucker gehe, also der Spiegel zu stark sinkt. Ich schwitze dann, zittere ein bisschen und werde oft auch ziemlich grantig. Mein Mann und meine Kinder kennen das schon und nehmen es mit Humor, genau wie meine Kollegen. Sie wissen ja, dass ich dann nur ein bisschen Zucker – meist in Form eines Glases Apfelsaft – brauche, um wieder ganz ich selbst zu sein.

Überhaupt bin ich meiner Familie und meinen Kollegen sehr dankbar für ihre Rücksicht und Unterstützung. Ohne sie hätte ich ganz sicher nicht meinen ersten Marathon geschafft, den ich ihm Oktober gelaufen bin und der mich unheimlich stolz macht. Bei der Arbeit ginge es auch nicht ohne die Hilfe der anderen: Wenn ich gerade in voller Montur beim Patienten stehe und mein Zuckerspiegel zu stark sinkt, reicht mir eine Kollegin von draußen auch mal einen Apfelsaft in die Box. Und notfalls, sage ich oft scherzhaft, muss sie mir auch mal kurzfristig „an die Wäsche“, um die Pumpe für kurze Zeit vom Katheder abzustöpseln und so die Insulinzufuhr zu stoppen.

Viele müssen wochenlang für Messgerät oder Pumpe kämpfen

Mein Leben mit Diabetes ist im Großen und Ganzen also völlig in Ordnung, auch wenn es zwischendurch immer mal wieder Zeiten gibt, in denen ich auf ihn schimpfe. Wenn zum Beispiel mein Blutzuckerspiegel an manchen Tagen über Stunden hinweg immer wieder schwankt und ich nicht herausfinde, warum. Das kann ganz schön nerven. Oder wenn ich mich wochenlang mit der Frage herumschlagen muss, ob meine Hilfsmittel bezahlt werden oder nicht. Es ist nicht zu fassen, wie lange viele Betroffene kämpfen müssen, bis sie endlich ein Messgerät oder die Pumpe bewilligt bekommen. Daran müsste sich in Zukunft dringend etwas ändern. Es reicht doch wirklich, wenn der Diabetes Ärger macht, dafür braucht man nicht auch noch die Krankenkasse!

Martina Seidl

Fachpflegerin für Intensiv-und Anästhesiepflege

Die 33-Jährige arbeitet auf der Intensivstation des Klinikums der Universität München.